Warum muss sich Qigong immer so ziehen …

Kennst du das auch? Schnell noch das letzte Meeting, fix noch ein zwei Telefonate und dann gerade noch pünktlich zum Entspannungskurs. Eigentlich bist du eh schon übermüdet und richtig Lust hast du auch nicht, aber dein Nacken macht mal wieder Probleme, außerdem ist Januar und das Gefühl, etwas ‚machen zu müssen‘ zwischen den ganzen Neujahrsvorsätzen und ‚New-Year-New-Me-Bekundungen auf Insta, LinkedIn und Co. noch stärker als ohnehin schon. Dir schwirrt der Kopf, aber du hoffst, dass die Qigong-Stunde, die du gebucht hast, jetzt gerade vielleicht genau das Richtige für dich ist, um runterzukommen. Und dann? Dein Körper rebelliert. Die Stunde zieht sich wie ein Kaugummi und du bist einfach nur genervt. Ein absoluter Fail also? 

Nein. Insbesondere zu Beginn der eigenen Qigong-Praxis kann eines sehr ungewohnt sein: die Langsamkeit. Oder anders gesagt, der Raum, den du mit deinem Körper auf einmal zur Verfügung hast. Sich selbst zu spüren kann dann zu einer echten Herausforderung werden, vor allem, wenn Verspannungen und Probleme auf einmal überall aufploppen. Kickt dann noch der eigene Leistungsanspruch wird es schnell anstrengend. 

Auch Unruhe lehrt uns etwas

Das Wichtigste vorneweg: das ist ganz normal. Egal, wie dein Körper und du auf dieses neue, ungewohnte Setting reagieren, du selbst kannst anhand deiner Reaktion eine Menge über dich erfahren. Und das ist bereits Teil deines eigenen Qigong-Weges. Vor allem die bewusste Bestandsaufnahme zu Beginn einer jeden Qigong-Stunde hilft dir, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es dir jetzt in diesem Moment geht. Wo du gerade innerlich stehst. Hier hast du den nötigen Raum, der im Alltag oft fehlt.

Du kannst jetzt endlich einmal genauer hinschauen und dich fragen:

  • Was spüre ich gerade?
  • Was spüre ich nicht?
  • Was ist präsent?
  • Möchte ich das, was präsent ist, in meiner Qigong-Praxis stärken oder darf es sich verändern?
  • Was bringe ich heute mit und kann ich mir das erlauben?
  • Oder bin ich im Widerstand? 

Bei jeder Qigong-Stunde trittst du folglich nicht nur in den eigentlich Übungsraum ein, sondern tauchst auch neugierig in deine eigenen Körperräume ab.

So gesehen erfährst du Raum und gibst Raum. Dir selbst und allem, was da ist. Auch darum geht es im Qigong: das wahrzunehmen, was gerade da ist. Mit dem umzugehen, was gerade da ist, ohne auszuweichen oder es zu um-gehen. 

Das Bewusstsein für deine eigene Aufrichtung hilft dir hier ganz konkret, dich selbst zu verorten und dir Raum zu geben. Im Alltag ist das oft gar nicht so leicht. To-Do-Listen, Erwartungshaltungen (die eigenen oder fremde), Ängste und Sorgen sowie die Diskrepanz zwischen dem, was man gerade tut und dem, was man vielleicht gerade tun möchte – all das erzeugt Stress. Dieser Stress ruft im Körper meist eine gewisse Schutzspannung hervor, die, je nachdem wie lange sie aufrecht erhalten wird (oder werden muss), dort für einige Unruhe sorgen kann. 

Illustration einer Wirbelsäule neben einem blauen Design-Element.

So behindert sie oft das eigene ‚Abschalten-Können‘ und mündet, nach getaner Arbeit, eher in Ablenkung als in wirkliche Entspannung. Gleichzeitig erzeugt sie meist Enge und verhindert ein Weit-Werden und Loslassen, auch während deiner Qigong-Praxis. Denn bleibt diese punktuell, beispielsweise auf einen Abend pro Woche verteilt, während der restliche Alltag Spannung erzeugt, wird es schwer, hier wirklich nachhaltig regulieren zu können. 

Auf lange Sicht kostet diese Schutzspannung Unmengen an Kraft und kann zu Qi-Verlust und Müdigkeit führen. Was entsteht ist eine Art Kreislauf aus Verspannungen und ungünstigen Reaktions- und Bewegungsmustern. Das Ergebnis ist dann das permanente Gefühl, nicht zu wissen, wo einem der Kopf steht, geschweige denn, wo oben und unten ist. Erkennst du das wieder?

Spiele mit dem, was da ist

Im Qigong gibt es hier ein wunderbares Prinzip, das dich dabei unterstützt, dich selbst, im wahrsten Sinne, wieder besser zu verorten: unten fest, oben leicht. Aber was bedeutet das? 

Kurz gesagt: gut geerdet zu sein und einen kühlen Kopf zu bewahren, auch in stressigen Situationen. Das ist natürlich sehr allgemein ausgedrückt, aber letztlich geht es im Alltag genau darum: Stabilität, physisch und psychisch. Wie ein Baum, der nach unten stabil ist und sich nach oben öffnen darf, weil er weiß, dass er gut verwurzelt ist. 

Das Vertrauen in die Erde aufzubauen und sich von dieser Erde aus in alle Richtungen frei zu bewegen, das ist etwas, dass du im Qigong direkt erfahren kannst. Du lernst, nach unten loszulassen und dich selbst gut abzuerden, wodurch dein Bewegungsspielraum zunehmend weiter wird. Erde und Himmel sind dabei die zwei großen Orientierungspunkte im Raum, zwischen denen du dich bewegst. Der Himmel ist dabei kein kosmisches Konstrukt oder göttlich oder sphärisch konnotiert. Vielmehr ist er – wie der Boden unter unseren Füßen – ein natürlicher Orientierungspunkt im Raum. Ein Teil jenes Urvertrauens, das uns dabei hilft, uns in der Welt zu verorten.

Oder in Qigong-Sprech: tian = Himmel, di = Erde, ren = Mensch. Der Mensch als Verbindung zwischen Himmel und Erde, im permanenten Austausch mit sich und seiner umliegenden Welt. 

tian
di
ren