„The mind is like the wind and the body like the sand. If you want to know how the wind is blowing, you can look at the sand.“ (Bonnie Bainbridge Cohen)

Geknickt sein, den Kopf hängen lassen, aus dem Lot geraten. Der Alltag bietet in der Regel viel Raum für potenziellen ‚Schiefstand‘. Im Außen wird hier zumeist deutlich, wie sich die Lage im Inneren gestaltet, denn das psychische Erleben findet seinen Niederschlag auch im äußerlich sichtbaren Körpergeschehen.

Egal ob hochgezogene Schultern, eine angespannte Kiefermuskulatur oder durchgedrückte Knie, Emotionen verkörpern sich auf vielfältige Weiße. Sie verdichten sich zu bestimmten Bewegungs- und Haltungsmustern, die wiederum, wenn man sie entsprechend lange beibehält, zur Gewohnheit werden. Je nachdem, um welche Muster es sich hierbei handelt, gestaltet sich der jeweilige Bewegungsspielraum individuell aus.

Meist werden (ungünstige) Bewegungs- und Haltungsmuster im Laufe dieses Prozesses derart zur Gewohnheit, dass sie nicht mehr gespürt werden. Je nach Veranlagung verfestigen sich zusätzlich Emotionen wie Angst, Wut oder Traurigkeit auf unterschiedliche Weiße in bestimmten Körperhaltungen. Laut Benita Cantieni stellt dieses „Einfrieren“ ein Problem dar, da es den Körper seiner Fähigkeit beraube, andere Gefühle spontan und vor allem intensiv auszudrücken.

Embodiment: Körper und Psyche in Wechselwirkung

Die Annahme, dass sowohl konkrete Emotionen im Menschen verkörpert werden, als auch habituelle Verhaltensweisen, bietet die Grundlage für gegenwärtige Embodiment-Theorien.

Embodiment geht hierbei davon aus, dass Körper und Psyche in einer unablässigen Wechselwirkung stehen. Dabei ist wesentlich, dass nicht nur der Körper als Spiegelbild der Seele begriffen wird, sondern gerade das Gegenteil im Fokus steht: die Seele als Spiegelbild des Körpers. 

Experimente aus dem Bereich Embodiment zeigen, dass sich im in Schieflage geratenen Körper nicht nur Emotionen speichern bzw. manifestieren, sondern dieser unsere Wahrnehmung darüber hinaus empfindlich beeinflussen kann. So kann es für die Bewertung einer Situation einen enormen Unterschied machen, welche Körperposition dabei konkret eingenommen wird oder sogar bereits im Vorfeld eingenommen wurde.

Im Alltag rückt der Körper jedoch zunehmend in den Hintergrund. Im Spannungsfeld aus Stress, Konzentration und Multitasking verschwindet er meist hinter To-Do-Listen, Leistungsansprüchen und Optimierungsdruck. Insbesondere im informationsverarbeitendem Arbeitsumfeld wird er zum sitzenden Körper in seiner, wie Hajo Eickhoff es beschrieben hat, „Zelle Stuhl“, von der aus er per Knopfdruck zwar im Nu überall sein kann, selbst jedoch nahezu sediert bleibt.

Er wird zum Statisten, der nicht durch Gerüche oder Geräusche auffallen darf und sich bestenfalls ruhig, zumindest aber nicht störend, verhalten soll.

So führt das ständige Per-formen des Geistes langfristig zu einem Ver-formen des Körpers, das sich unter anderem in stressbedingten Rücken- und Nackenbeschwerden, Übergewicht oder chronischen Schmerzen widerspiegelt. Denn alles, was man nicht spürt, macht sich irgendwann bemerkbar.

Wird  hier von Unternehmensseite zusätzlich lediglich eine ‚Reparaturergonomie‘ betrieben, lässt sich Fehlbelastungen kaum ausreichend entgegenwirken. Kommen dann noch andauernde Über- oder Unterforderung, hoher Zeitdruck oder psychosoziale Konflikte dazu, erhöht sich die Chance chronisch-schmerzhafter Bewegungsmuster zusätzlich. Denn alles, was tagsüber nach Ausdruck verlangt, aber der konkreten Gegebenheiten wegen geschluckt, unterdrückt oder zurückgehalten wird, verschwindet nicht. Vielmehr wird es niedergehalten und kompensiert, was Lebensenergie bindet und unnötige Muskelspannung aufbaut.

Qigong und die natürliche Aufrichtung

Im Qigong finden sich durch die natürliche Aufrichtung viele Ansatzpunkte, die dabei helfen können, sich innerlich sowie äußerlich wieder auszurichten. Die äußere Basis bildet hierbei ein nach unten intensiv geerdetes Stehen, bei dem sich das Hauptgewicht über Yongquan (Sprudelnde Quelle, Niere 1) verteilt. Die Füße sind entspannt und bilden die Wurzel zur Erde hin. Die Sprunggelenke sind gelöst und die Knie leicht gebeugt.

Über die lockeren Hüftgelenke verbindet sich der Rumpf mit der Basis. Das Becken ist gesetzt, die Leisten locker. Das Steißbein sinkt und zieht leicht nach vorne, wodurch sich die Lendenwirbelsäule deutlich streckt und der Oberkörper leicht nach vorne neigt. Die Po-Muskulatur ist entspannt, die Beckenschale weit, der Bauchraum locker. Das Brustbein wird von innen her weich, ohne einzufallen, die Schulterblätter sinken auf natürliche Weiße nach unten und werden nicht nach vorne gezogen. Die Brust öffnet sich, der Rücken breitet sich aus. Das Schulterdach ist entspannt, die Arme durchlässig bis in die Fingerspitzen.

Unter den Achseln ist Raum. Der Kopf ankert in den Füßen, ist leicht und weit. Der Nacken ist aufrecht. Stirn, Drittauge, Nase, Jochbeine, Schläfen und Kiefermuskulatur sind entspannt.

Die Zungenspitze ruht sanft oben am Gaumen, hinter den Schneidezähnen (Verbindung Dumai – Renmai). Der Blick ist weich gestellt. Der Scheitelpunkt, Baihui, schafft eine Verbindung zum Himmel und wächst mit dem goldenen Faden in die Wolken. In dieser Aufrichtung ist nicht die Wirbelsäule das Lot, sondern der sogenannte Zentralkanal, der von Baihui zu Huiyin (zwischen Anus und Geschlecht) verläuft und zwischen den Yongquan-Punkten auf die Erde auftrifft. 

 

Je vertrauter der Körper, desto mehr Spielraum

Diese natürliche Aufrichtung ist der Ausgangspunkt für vielfältige Formen im Qigong. Ist der Körper in seiner natürlichen Aufrichtung, dann ist er entspannt, zentriert und beweglich. Er agiert aus einer gelassenen Mitte heraus und kann sich in alle Richtungen gleichmäßig entfalten.

Voraussetzung hierfür ist das Entspannen und Loslassen unnötiger Anspannungen im Körper. Ein Prozess wiederum, der durch die tägliche Qigong-Übungspraxis immer mehr verfeinert wird. Durch das Entspannen und Loslassen erscheinen die einzelnen Körperteile zunehmend als miteinander verbunden, was Körperräume entstehen und spürbar wahrnehmbar werden lässt.

Je vertrauter man hier mit den eigenen Körperräumen wird, desto spielerischer gestaltet sich der Umgang mit selbigen, sowohl in der Form als auch im Alltag. 

Im Qigong wird der Körper nicht ignoriert, überformt, zum Verschwinden oder zum Schweigen gebracht. Es ist ein Weg mit dem Körper, statt gegen ihn. Ein Weg der Selbstverantwortung, Akzeptanz und Dankbarkeit.

Dabei gilt es zu betonen, dass die natürliche Aufrichtung in diesem Zusammenhang keine Methode darstellt, die erlernt werden muss in dem Sinne, dass sie etwas Körperfremdes wäre. Vielmehr ist diese Art der Aufrichtung ein Zustand, der auf natürliche Weise im Körper angelegt ist und sich individuell entlang des eigenen Körperbaus und eigener struktureller Voraussetzungen entfalten darf. Das lässt die eigene Aufrichtung eher zu etwas werden, das man wiederentdeckt, anstatt es neu lernen zu müssen.

Damit stellt die natürliche Aufrichtung eine Möglichkeit für ein gelingendes Basis-Embodiment dar, wie Maja Storch es in Anlehnung an Jakob Levy Moreno beschreibt. Nach diesem habe nämlich derjenige Mensch das größte Potenzial zu psychischer Gesundheit, der in der Lage sei, auf jede Situation aus dem Moment heraus spontan zu reagieren, da er sich selbst als aktiv handelndes Individuum erlebe.

Quellen:

Cantieni, Benita: „Wie gesundes Embodiment selbst gemacht wird“, in: M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther und W. Tschacher (Hrsg.): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, 4. überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe Verlag 2022 (2006), S. 111-142.

Eickhoff, Hajo: „Die Sedativierung im Sitzen“, in: D. Kammer und C. Wulf (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit, Frankfurt am Main 1994, S. 216-231.

Storch, Maja: „Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde“, in: M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther und W. Tschacher (Hrsg.): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, 4. überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe Verlag 2022 (2006), S. 41-84.