„Die meisten Ziele für den Körper sind im Kopf entstanden und gehen an seinen natürlichen Bedürfnissen vorbei“ (Karin Jonas)
Warum der Schweinehund Kalorien frisst
Bewegung hat für viele Menschen einen recht ambivalenten Charakter. Im Alltag ist es nicht selten das funktionale Bewegen, das im Fitnessstudio oder Sportverein gecoacht und auf Leistung, Ergebnis und Form fokussiert ist. Diese Art der Bewegung folgt einem Zweck und ist bestenfalls messbar, vergleichbar und steigerbar. Es geht darum, Kalorien zu verbrennen, schwache Muskelgruppen zu stärken oder unliebsames Fett loszuwerden.
Zudem laden sogenannte ‚Body Challenges‘ zum Überwinden der eigenen Körpergrenzen ein, um die eigene Figur zu verbessern, das eigene Körpergewicht zu regulieren oder ein anderes vordefiniertes Ziel zu erreichen. Der Körper wird dabei meist eingeteilt in Problemzonen, die es auf eine bestimmte Art und Weise zu trimmen gilt.
Unter dem Credo der Gesundheit soll der sogenannte innere Schweinehund überwunden und das Optimum in der Bewegunsbillanz erzielt werden. Leistungsdruck in der ein oder anderen Form ist dabei tonangebend, meist auch verbunden mit dem inneren Gefühl, nicht gut, hübsch, sportlich genug zu sein (oder ein anderer beliebiger Platzhalter). Frau kennt es nur zu genüge: fremdes und eigenes Bodyshaming (kurzer Flashback in Richtung Schulsport inklusive). Es gilt eben durchzuziehen. Nur die Harten und so …
Erschöpfen heißt nicht Entspannen
Natürlich gibt es auch andere Beweggründe, um selbst in Bewegung zu kommen. Die Steigerungslogik prägt aber entscheidend das Grundverständnis, mit dem wir Bewegung in der Regel begegnen. Bitte nicht falsch verstehen, es spricht nichts dagegen, sich auszupowern oder an die eigene Leistungsgrenze zu gehen. Nur wenn dieses Verständnis zur Voraussetzung für (richtige) Bewegung im Alltag wird, geht die Gleichung nicht ganz auf.
So erschöpfen exzessive Konditionssportarten den Körper beispielsweise und laugen ihn, insbesondere als Teil eines ohnehin schon stressigen Alltags, energetisch eher aus. Denn: Erschöpfen heißt nicht Entspannen. Ebenso kann eine sportliche Überbetonung einzelner Muskelgruppen den Körper in seiner natürlichen Koordination eher behindern als fördern.
Gleich welches Ziel verfolgt wird, richtet sich die Steigerungslogik im Grund fast immer gegen den Körper und seinen Ist-Zustand, was sich mal mehr mal weniger subtil in die eigenen Bewegungsbestrebungen mit einschreibt – und im schlechtesten Fall komplett vom Bewegen-Wollen abhält. Der Stempel ‚Bewegungs-Muffel‘ oder ‚Couch-Potato‘ ist hier dann inklusive.
Und klar, kein Wunder, dass das permanente Überwinden-Müssen dann eher abschreckt. Unsere Mediennutzung und unser Joballtag begünstigen diesen Zustand meist noch obendrauf und lassen nicht selten eine alte Sesshaftigkeit wieder aufleben, die überdurchschnittliche Sportlichkeit gerade deshalb feiert, weil sie selbst immer unbeweglicher wird.

Begünstigt wird das bei Frauen aber auch durch den Blick von Außen. Eigene Fitnessstudios, Kurse oder Unterrichtseinheiten für Frauen sprechen Bände und machen deutlich, dass frau keine Lust mehr darauf hat, mit dem Prädikat ‚wie ein Mädchen‘ (mit all seinen Konsequenzen) versehen zu werden. Auch im Sport nicht. Der männliche Blick nervt. Schlimm wird es aber vor allem auch, wenn Frauen untereinander den Körper der jeweils anderen zum Austragungsort für Ab- und Bewertung werden lassen. Tonangebend ist dann letztlich wiederum der Blick von Außen, denn schließlich will Frau Mann gefallen.
Kommt dann noch das gesellschaftliche Ideal einer zielgerichteten Bewegung dazu, die mit einem gewissen Chic einhergeht und Gestresst-Sein en vogue erscheinen lässt, macht Bewegung spätestens dann keinen Spaß mehr.
Der Ausgleich wird zum To Do. Das entspannte ‚Jetzt‘ wandelt sich dann zum gestressten ‚Sofort‘. Verfolgt wird immerhin ein Lebenslauf, kein Lebensspaziergang.
Der Körper als Projekt
Ein solches ‚Gegen-den-Körper-Bewegen‘ kostet Kraft, da es überwiegend mit Muskelspannung arbeitet, um entsprechende Bewegungsmuster einzuüben und gewünschte Ergebnisse zu erzielen. Schnell wird der Körper dabei zu einem eigenverantwortlichen Projekt, zu einer Aufgabe, an der man fortlaufend arbeiten muss. Bei einem derartigen Bewegungsverständnis fällt es schwer, langfristig mit dem eigenen Körper und seinem Empfinden in Kontakt zu bleiben. Dies vor allem, da Bewegung in diesem Licht betrachtet als etwas Separates erscheint, das als Ausgleich zur Statik und Stagnation des Alltags betrieben wird. So wird sie zusammengekürzt zu einem Abreagieren und Abladen von Stress. Sie wird isoliert sowie gecoacht und dadurch zu etwas, das eher als von außen auferlegte Verpflichtung, denn als körpereigener Drang empfunden wird.
Dabei ist uns intrinsisches, bewegungsorientiertes Erleben von Kindheitsbeinen an gegeben. Einerseits in Form tatsächlich biologischer Abläufe (z. B. Herzschlag, Blutkreislauf, Verdauung etc.) und andererseits in Form einer Sensibilität, die Welt rein über die eigene, körperliche Sensorik erlebbar werden lässt. Dabei werden insbesondere diejenigen Bewegungen verfolgt, die sensomotorischen Genuss versprechen. Was hingegen als unorganisch, gegenteilig oder unbefriedigend zu den eigenen Bewegungen und Aktionen eingestuft wird, weckt kein Interesse. Beobachtet man Kinder, so wird darüber hinaus deutlich, dass diese meist noch einen sehr ausgeprägten Sinn für das Wechselspiel aus Aktivität und Ruhe an den Tag legen. Beiden Tendenzen wird augenblicklich nachgegeben, wenn sie vorhanden sind, wodurch Aktivsein und Ruhe balanciert werden. Dies beinhaltet meist auch eine gewisse Spontaneität im Moment, die ein kompromissloses Abtauchen in die jeweilige Handlung ermöglicht.
Bewegung mit, statt gegen den Körper
Aus den genannten Aspekten ergeben sich in Folge natürliche Bewegungsqualitäten, die laut Katrin Jonas die Grundlage bilden, damit Bewegung als eigene, natürliche Ausdrucksform wahrgenommen wird. Demnach sind es vor allem diejenigen Bewegungen, die genussorientiert, selbstgeführt, spielerisch, organisch, spontan, balanceorientiert und prozessbezogen sind. Hierbei geht es also weniger um ein ‚Überstülpen‘ von externen Bewegungsanforderungen, sondern vielmehr darum, Zugang zu einem freien, bewegten Selbstausdruck zu erhalten.
Ersteres zeichnet sich oft dadurch aus, das Bewegungen nach anfänglicher Motivation nicht durchgehalten und schnell wieder aufgegeben werden, entweder, weil sich bestimmte Erfolge nicht einstellen wollen, oder weil die Bewegung als zu anstrengend, erzwungen oder rein zweckorientiert eingestuft wird. Je mehr man hier jedoch mit der Natur des eigenen Körpers verbunden ist, desto mehr Befriedigung zieht man aus der Bewegung selbst und nicht aus dem bloßen Ergebnis.
Fixiert man sich hingegen bei seinen Bewegungsbestrebungen rein auf eine Zweckorientiertheit, so kann dies unter Umständen eine Diskrepanz zu den eigentlichen körperlichen Veranlagungen erzeugen, wodurch man bisweilen mehr Schaden anrichtet als dass man sich tatsächlich etwas Gutes tut.
Die Frage hierbei ist also: Was bleibt von der Sinnhaftigkeit einer Bewegung, wenn sie keinen Zweck mehr erfüllt? Wenn sie keinen Regeln folgt? Wenn sie eine vorgegebene Form einfach aufgibt? Oder kurz: Wozu bewegen?
Bewegung mit Qigong wieder genießen lernen
Räume entstehen durch Bewegung. Da die Welt wiederum all jenes ist, das uns begegnet, schafft Bewegung auch Begegnung und so wird Bewegung selbst letztlich zu einer Grundvorraussetzung für ein resonantes ‚In-der-Welt-Sein‘.
Im Qigong begegnet man sich selbst in der Bewegung.
Durch das Spüren eigener Körperräume verbessert sich nicht nur das eigene Körperbewusstsein, sondern auch die Wahrnehmung widersprüchlicher Bewegungsimpulse, die im Alltag oft Quelle von Verspannungen sind.
Die grundlegendste Bewegung ist hierbei das bewegte Stehen, auch doppelte Welle genannt. Diese verbindet den gesamten Körper, indem sie ein intensives Spüren fördert und so in die innere Ruhe führt. Dabei ist sie keine starre Form, sondern ein gleichmäßiger Verlauf, der sich bei regelmäßiger Übungspraxis zunehmend verfeinern lässt. Die doppelte Welle verortet in der eigenen Mitte, lenkt die Aufmerksamkeit auf den gesamten Körper und hilft so, ein Zerstreuen im Außen zu vermeiden.
Darüber hinaus lässt sich mit ihr unnötiger Festigkeit und Unruhe im Körper nachspüren, da sich diese im Bewegungsfluss direkt abbilden und selbigen behindern.
Die Bewegungsrichtung der doppelten Welle ist hierbei die Vertikale, das Heben und Sinken entlang des Zentralkanals. Sie teilt sich auf in eine äußere und eine innere Bewegung. Auf der inneren Ebene sind Sinken und Heben ein Loslassen und Vor-Entspannen im und durch den gesamten Körper, von Baihui bis Yongquan. Auf der äußeren Ebene sind Sinken und Heben ein Abschmelzen bzw. Herauswachsen, beginnend in der Basis, von Yongquan bis Baihui.
Als formendes Prinzip ist sie der Grundton einer jeden Bewegung und sorgt dafür, dass der Körper im Bewegen zentriert und verbunden ist. Sie schafft Raum in der Begegnung mit dem Körper.

Das Heben und Sinken ist hierbei die Basis für das eigene Entfalten im Öffnen und Schließen. Beide, sowohl Heben und Sinken wie auch Öffnen und Schließen, sind die Essenz, aus dessen Quelle sich jede andere Bewegung speist. In der Qigong-Übungspraxis befähigen sie im Verlauf der Zeit immer mehr dazu, Bewegung als etwas Eigenes und Organisches erlebbar werden zu lassen. So erscheint sie weniger als etwas Fremdes, sondern zunehmend rückgebunden an die eigenen Körperräume.
Den eigenen Bewegungsausdruck finden
Im Vordergrund steht dabei der Prozess, das Erleben während der Bewegung und nicht ein bestimmtes Ziel.
Im Gegenteil: Fokussiert man sich im Qigong auf ein bestimmtes Ziel, so stört man den eigenen Prozess eher, als das man ihn fördert.
Insbesondere die Vielzahl an Formen lädt im Qigong indes dazu ein, diese ‚machen‘ und ‚sammeln‘ zu wollen. Es geht hier jedoch nicht darum, den Körper mit Formen zu ‚über-formen‘, sondern die eigene Bewegung in unterschiedlichen Bewegungsbildern ihren Ausdruck finden zu lassen.
Qigong zeichnet dabei den Weg von der äußeren Bewegung hin zur inneren Ruhe, und von der äußeren Ruhe hin zur inneren Bewegung. Wie anhand der Aufrichtung bereits gezeigt, steht hier die eigene Balance im Vordergrund, das Regulieren eigener Zustände im Wechselspiel aus Bewegung und Ruhe, sowohl physisch wie auch psychisch.
Indem Aufmerksamkeit und Entspannen anstelle von Konzentration und Leistungsanspruch kultiviert werden, entsteht das nötige Umfeld, um dem eigenen Körper genussorientiert und spielerisch den Raum zu schenken, den er gerade braucht und der ein ‚Ausheilen‘ erlaubt. Bewegung wird dabei zum Klebstoff der Anbindung und Verbindung mit der externen und internen Welt.
Die oder der Übende erhält zudem die Sicherheit, selbstwirksam und positiv auf das eigen Umfeld und sich selbst einwirken zu können.
Alles ist (in) Bewegung
Es zeigt sich hier, dass sich alle bereits erwähnten, natürlichen Bewegungsqualitäten im Qigong wiederfinden lassen. Durch die Anbindung an das eigene So-Sein und Körper-Sein, wird Qigong zu etwas Authentischem in dem Sinne, das es ein ‚Wieder-bewusst-Werden‘ der eigenen Bewegungsqualitäten fördert.
Dies ist auch mit Blick auf aktuelle Embodiment-Theorien nützlich. Ein gelungenes Embodiment kann sich nämlich nur dann entwickeln, wenn das body feedback mit dem bewussten Handeln auch übereinstimmt. Bestimmte Affirmationen oder Selbstbewusstseins-Trainings sind beispielsweise nicht zielführend, wenn der Körper dem psychischen System entgegengesetzte Signale sendet. Körperausdruck und psychisches System sollten daher laut Maja Storch idealerweise zueinander passen, sodass Inkonsistenzen vermieden werden. Ist das nicht der Fall, sorgt diese selbsterzeugte Inkonsistenz dem Prinzip der valence-motor compatibility zufolge eher für Chaos in der Psyche.
Motorische Aktivität und psychischer Verarbeitungsprozess gehen folglich Hand in Hand. Dies ist im Qigong der Fall. Hier geht es nicht darum, das eigene Leben in eine bestimmte Geisteshaltung hinein zu manipulieren, sondern vielmehr darum, „die eigene Mitte durch die Annahme unseres Seins zu festigen und gleichzeitig so beweglich wie ein Grashalm im Wind zu werden“. So hilft es dabei, an unangenehmen Gefühlen und Situationen nicht ‚festzukleben‘, sondern diese annehmen und loslassen zu lernen.
Der Körper weiß: Alles ist (in) Bewegung. Um diese Bewegung zu spüren darf man sich einlassen, zulassen, Zeit lassen. Die Fähigkeit zu Spüren gleicht dabei eher einem Tanz, sie ist kein Lichtschalter. Das bedeutet, dass man sich immer wieder aufs Neue vom Erspüren und Bewegen nach Hause, auf die eigenen Füße, tragen lassen darf. Ein derartiges Verständnis von Bewegung teilt den Körper nicht auf in Problemzonen, in ‚gut‘ und ‚schlecht‘. Es hinterfragt die Zielvernarrtheit und hält ihr einen freien Selbstausdruck entgegen, der Bewegung als das sieht, was sie ist: ein Spiel mit dem eigenen Körper.

Quellen:
Jonas, Katrin: Die bewegte Frau. Vom Bewegen sollen zum Bewegen wollen, Köln: Innenwelt Verlag 2020.
Schmidt-Wigger, Alke: „Wird mein Tag ein anderer sein, wenn ich es will? Die Wirkungsweise von Affirmationen im Qigong“, in: tiandiren, Nr. 24 (2008), S. 9-10.
Storch, Maja: „Wie Embodiment in der Psychologie erforscht wurde“, in: M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther und W. Tschacher (Hrsg.): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, 4. überarbeitete Auflage, Bern: Hogrefe Verlag 2022 (12006), S. 41-84.