„Nein, es ist nicht wahr, dass sich eine Gesellschaft erhält – sie tanzt und kreist um sich selbst.“ (Martin Burckhardt)

Das Leben des Menschen ist ein Kreis. Eingebunden in den Kreislauf der Natur spürt er von Kindesbeinen an, was es heißt, ein zyklisches Wesen zu sein. Er spürt das Entstehen, Vergehen und Neu-Entstehen der Jahreszeiten, das beständige Ineinander-Übergehen der Elemente und das Wechselspiel regelmäßiger Ereignisse. Er spürt die Veränderung in sich, das Kreisen des eigenen Blutes, das ihn durchs Leben trägt und je nach Diversität den eigenen Zyklus, der sich rhythmisch mit jenen Kreisläufen des Makrokosmos verbindet. Der Kreis(lauf) ist strukturgebende (Bewegungs-)Form, biologische Essenz.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist der Kreis der Inbegriff von Perfektion. Wenn etwas „noch nicht ganz rund“ ist, so weißt es Mängel auf, die erst dann beseitigt werden, wenn sich der Kreis schließt. Er ist aber auch Verkörperung von Intimität, denn wer oder was sich im Freundeskreis oder im „engsten Kreis“ bewegt, kommt dem eigenen Selbst oft sehr nahe.

Strebt man hingegen nach Ruhm und Anerkennung, so sind es vor allem die „gehobenen Kreise“, in denen man selbst „Kreise ziehen“ möchte. Auch lokale Verbundenheit zu Landkreisen, Kreisstädten oder Kreisligen kann Halt geben und persönlicher Ankerpunkt sein.

Gemeinsam im Kreis

„Das Dasein ist rund.“ (Gaston Bachelard)

Im Qigong begegnet uns der Kreis zunächst in der Anordnung der Teilnehmer*innen im Raum. Ganz ähnlich vieler Gruppenaktivitäten ist er auch im Qigong Dreh- und Angelpunkt gemeinsamen Übens. Als solcher bietet er beste Voraussetzungen für das eigene Sehen und Lernen von Bewegungsabläufen und schafft gleichzeitig die Basis für Hilfestellungen, Korrekturen und die Aufrechterhaltung des Gruppen-Qis. Er erzeugt Gemeinschaft und fördert ein bewusstes Heraustreten aus dem oft hektischen Alltag in die Ruhe des Kreises. Dieser Schritt ist wichtig, da er ein behutsames Eintauchen in die Gegenwart erleichtert und dabei hilft, Sorgen, Ängste und Probleme außen vor zu lassen.

Illustration eines Kreises in Blautönen.

Der Kreis ist nicht linear. Er hat keinen Anfang und kein Ende. Alle sind gleich verbunden im gemeinsamen Üben. Natürlich ist der Lehrende auf gewisse Weise exponiert, da er formgebende Person ist und den Kreis mit Impulsen am Leben hält.

Er reit sich aber gleichzeitig selbst ein in den Kreis der Übenden, zu denen auch er ganz selbstverständlich gehört. Er ist Teil des Ganzen. Der Kreis unterscheidet hier nicht, zeigt so auch, dass ein Einstieg jederzeit möglich ist. Dass jede*r daran teilnehmen kann, egal, wo sie oder er gerade im Leben steht. Qigong bedarf keiner Voraussetzung. Ich muss nicht etwas leisten, es wird nicht von mir erwartet. Ich darf sein. Der Kreis ist folglich ein geschützter Raum, in dem sich jede*r Übende aufgehoben fühlen darf. Befürchtungen, durch den Kreis im Blickfeld aller zu stehen, sich zu blamieren oder bestimmten Anfroderungen nicht gerecht zu werden, können durch den Halt der Gruppe und des Kreises so Stück für Stück abgebaut werden.

Das Spüren der Mitte

„The way is not a way, it’s a depth.“ (Mooji)

Die Mitte ist ein Dauerbrenner im Achtsamkeitsdiskurs. Stilisiert zur großen Wohlfühl-Oase, die Ausgeglichenheit und innere Balance verspricht, wird sie verkauft als probates Mittel, um in einem herausfordernden Alltag die Oberhand zu behalten. Zahlreiche Bücher, Seminare, Programme und Apps zeigen unablässig, was man machen muss, um das Potenzial der inneren Mitte anzuzapfen. Dabei wird die innere Mitte nicht selten zu einem Ziel erhoben, das es um jeden Preis zu erreichen gilt.

Sie wird verdichtet zu einem punktuellen Zustand in weiter Ferne, der sich allerdings durch das richtige Programm und die nötige Disziplin konsequent erreichen lässt. Eine Konzentration auf das Werden also, die dem Sein jedoch das Wasser abgräbt. Da Wasser aber bekanntlich immer zum tiefsten Punkt fließt, braucht es gerade die Stille im Sein, um die eigene Mitte zu erkunden.

Im Qigong ist das Werden nichts, was mach „macht“. Das Werden geschieht durch das Sein, speist sich aus der eigenen Mitte. Wenn ich meine eigene Übungspraxis als Weg begreife, bleibt sie linear verhaftet und verschließt sich so der Vertikalen des Augenblicks. Vielmehr ist sie ein Hinabsteigen, eine Tiefe, ein „Durch-lässig-Werden“, ein Lassen also. Ein Weg hingegen bleibt immer etwas Gemachtes.

Der Kreis der Übenden im Qigong spiegelt dieses Verständnis wider. Die Mitte wird hier zum Zentrum des Kreises, die da ist. Dort fließt symbolisch alles hinein, von dort schöpft sich der Kreis. Habe ich das Gefühl, nicht in meiner Mitte zu sein, so kann der Kreis dabei helfen, sie wieder auszufüllen und zu kultivieren. Als Hilfestellung bewahrt er die Übenden davor, sich gedanklich selbst im Kreis zu drehen. Ein anfängliches Lenken der Aufmerksamkeit in die Mitte des Kreises, die nicht selten Blickfang in Form von Blumen, Kerzen oder Ähnlichem enthält, kann eine Brücke sein in die eigene Körpermitte. Das Kreisen der Gedanken wird ruhiger, der Blick geht zunehmend nach innen, das anfängliche Durchatmen geht über in ein gleichmäßiges Atmen.

Der Kreis ermöglicht so nicht nur ein Ankommen im Raum, sondern auch ein Ankommen in den eigenen Körperräumen. Wie Qigong selbst lädt er ein zum Aufbruch in die (eigene) Mitte und dazu, sich vom Spüren der eigenen Mitte tragen zu lassen. Eine bewusste Gestaltung der Kreismitte ist hier also alles andere als dekorativer Zusatz, sondern unterstreicht einerseits das Wesen des Kreises: die Zirkulation aus und um eine Mitte.

Andererseits verdeutlicht sie aber auch, welcher Impuls dem Kreis für die Übungsstunde mitgegeben wird, denn was in die Quelle kommt, verbreitet sich im ganzen System. So wie der Kreis in alles Richtungen pulsiert, abgibt und empfängt, dehnt sich auch die eigene Wahrnehmung, das eigene Gewahrsein im (Körper-)Raum, aus und zirkuliert um eine eigene und gemeinsame Mitte.